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Charakterstärke im Wohlstand: Echte Werte im Sufismus leben

Die Überzeugung, dass die schwierigen Zeiten die eigentlichen Prüfungen des Lebens darstellen, ist weit verbreitet. In Phasen der Not, sei es durch Armut, seelischen oder psychischen Druck, scheinen Stärke und Willenskraft besonders gefordert zu sein. Geduld und Ausdauer in solchen Momenten gelten oft als Beweis für Charakterfestigkeit. Doch diese Sichtweise greift zu kurz, denn die wahren Herausforderungen offenbaren sich oft erst in Zeiten des Wohlstands und des Überflusses. In der Not ist es so, dass viele Menschen sich Allah anvertrauen und glauben, dass ihnen Allah beisteht. Sie kämpfen mit den ihnen gegebenen Tugenden wie Kraft und Geduld. Doch keine Phase, weder gut noch schlecht, ist ewig. Interessanterweise zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen oft erst, wenn er nicht mehr kämpfen muss, wenn die harten Zeiten vorbei sind und ein Leben in Wohlstand und Zufriedenheit beginnt. In diesen Phasen des Überflusses, frei von äußerem Druck, werden persönliche Stärken und Schwächen, Dankbarkeit, Geduld, Vergebungsfähigkeit, Nachsicht und Demut auf die Probe gestellt. Ohne die Notwendigkeit des Überlebenskampfes offenbart sich, ob diese Tugenden tief im Charakter verwurzelt sind oder lediglich ein Produkt der Umstände waren. Es ist eine beobachtete Tatsache, dass Menschen in ihren jungen Jahren, während Studium oder Ausbildung und in Zeiten der Knappheit, oft besonders eifrig in ihrem Glauben und Streben nach Wissen sind. Doch wenn sie später den verführerischen Geschmack des materiellen Erfolgs kennenlernen, verlieren manche ihren Halt und all jene edlen Charakterzüge, von denen sie annahmen, sie wären ein fester Teil ihres Wesens, lösen sich auf. Die Werte, die in Zeiten der Not wie ein Überlebensinstinkt funktionieren, müssen auch in Zeiten des Überflusses Bestand haben. Es ist leicht, Demut, Vergebung und Geduld zu üben, wenn man keine andere Wahl hat. Doch wenn man die Wahl hat, dem weltlichen Luxus nachzujagen, und in einem Meer aus Wohlstand zu schwimmen, zeigt sich, ob man wirklich aus Überzeugung handelt oder nur aus Notwendigkeit. Arroganz, Gier und ein unersättlicher Durst nach mehr können in solchen Zeiten aufkeimen. Die Vergangenheit wird vergessen, die einstige Dankbarkeit schwindet, und der Drang nach weltlichem Erfolg kann zu einem unkontrollierbaren Sturzflug führen. In Zeiten des Erfolgs und des Wohlstands liegt eine wesentliche Prüfung darin, diejenigen nicht zu vergessen, die uns in schwierigen Momenten unterstützt haben. Es zeugt von wahrer Größe und Integrität, wenn wir unsere Dankbarkeit gegenüber Freunden, Mentoren und Wohltätern, die zu unserem Aufstieg beigetragen haben, durch Taten und Worte zum Ausdruck bringen. Das Vergessen dieser wichtigen Personen wäre ein Zeichen dafür, dass wir von unserem Erfolg geblendet sind. Echte Charakterstärke zeigt sich in der Beständigkeit unserer Werte – in Dankbarkeit und Loyalität – unabhängig davon, wie sich unsere äußeren Umstände verändern. Die Herausforderung liegt also darin, auch in guten Zeiten bescheiden zu bleiben und jene zu ehren, die uns geholfen haben, dorthin zu gelangen, wo wir heute stehen. Deshalb ist die wahre Prüfung des Charakters und der persönlichen Werte nicht in den Zeiten der Härte, sondern in den Zeiten des Wohlstands zu sehen. Wenn es uns gut geht, sind wir ganz auf uns selbst gestellt. Dann zeigt sich, ob die Prinzipien und Werte, die wir in schwierigen Zeiten als Rettungsanker genutzt haben, tatsächlich in unserem Inneren verankert sind. Es geht darum, zu demonstrieren, dass diese Eigenschaften nicht nur Krisenwerkzeuge waren, sondern die Grundpfeiler unseres Selbst. In den guten Zeiten müssen wir beweisen, dass wir fähig sind, an unseren Prinzipien festzuhalten, ohne von äußeren Umständen dazu gezwungen zu sein. Es geht um die Aufrechterhaltung von Dankbarkeit, auch wenn wir scheinbar nichts mehr zu ersehnen haben; um die Fortführung von Demut, wenn wir in der Welt Anerkennung finden; um die Übung von Geduld, auch wenn wir sofortige Befriedigung erlangen könnten; und um die Fähigkeit zur Vergebung, auch wenn wir die Macht haben, Vergeltung zu üben. Die wahre Prüfung ist, ob wir in der Lage sind, die Verführungen des materiellen Erfolgs zu meistern und unsere Werte nicht dem Glanz und Glamour des weltlichen Lebens zu opfern. Können wir Verzicht üben, auch wenn uns alles zur Verfügung steht? Bewahren wir unsere Nachsicht und Güte, auch wenn wir die Mittel haben, um uns von jedem abzuwenden, der uns nicht dient? Letztlich ist es die Herausforderung, nicht zu vergessen, woher wir kommen, was wir durchgemacht haben und wer wir sein wollen – unabhängig davon, ob wir uns in Zeiten der Not oder des Überflusses befinden. Die Beständigkeit unserer Charakterstärke in guten wie in schlechten Zeiten ist der wahre Indikator für unsere Integrität und Authentizität als Mensch.